16.09.2023 / 6:30
Es ist kalt heute früh, ich breche im halbdunkel zur Wohnung von Chris auf und nutze die 2Kilometer um mich auf das einzustellen was kommt. 3 Jahre ist es her, dass ich die 500km geknackt habe… schaffen wir das heute wieder?
Einen besseren Partner kann ich mir dafür nicht wünschen. Chris ist in der Form seines Lebens, ist 2022 die Badlands in Spanien in Spitzenzeit geradelt und durch 1000ende gefahrene Kilometer mit seinen Canyon Kolleg*innen weit besser im Training als ich… Also was kann ich vorlegen? Ich bin zäh, wenn auch nicht so zäh wie früher, aber ich kenne die Strecke weiß wie es sich anfühlt 24h dieselbe Strecke zu fahren und wie es sich anfühlt, wenn die Monotonie Einzug hält, weil man das ab Runde 2 ja alles heute schonmal gesehen hat… Ich komme an, steige vom Rad, atme tief durch und weiß jetzt geht es los.
7:00
Startschuss, wenn auch ganz unbeobachtet, abgesehen von ein paar Möwen die über uns kreisen. Es ist noch nicht viel los an diesem Samstagmorgen. Wir sind guter Dinge, top motiviert und haben uns als Team dafür entschieden nur „aus dem Trikot“ zu fahren wie Chris das so schön formuliert. Also sind wir vollgepackt mit Gels, Nüssen und alles was eben ins Trikot gepasst hat. Den Rest des Tages wird es heißen: Alles an Nahrung aufnehmen was geht, damit wir in der Nacht nicht auf einen Hungerast kommen, wenn wir nur noch mit Gels arbeiten können…
Es läuft super, wir fahren mit einem hervorragenden Schnitt los, Chris an der Spitze im Wind und ich hänge mich an sein Rücklicht.
8:00
Erster Stopp auf dem Bodanrück, kurz vor der Abfahrt Richtung Bodman. Es ist neblig aber die ersten Sonnenstrahlen kommen durch. Die Laune ist bestens also nach 10 Minuten wieder in den Sattel und weiter geht’s.
11:00
Stopp vier und wir sind in Österreich. Beim Bäcker des Vertrauens kurz hinter Bregenz wird nochmal diverses Gebäck in die Mägen befördert bevor das Essen in der Schweiz unverhältnismäßig teurer wird 😉
Wir sind mittlerweile am sonnigen Ende des Bodensees angekommen, in Konstanz hängen die schwarzen Wolken. Also genießen wir die Pause ein wenig ausgedehnter und rätseln darüber wie weit wir wohl heute kommen. Aktuell fahren wir mit einem knappen 30km/h Schnitt und sind perfekt in der Zeit.
12:45
Irgendwo in der Schweiz an einem herrlichen Brunnen mit leider viel zu unbequemen Parkbänken wird das erste Mal auf Riegel und Gels zurückgegriffen. Unser Wasser füllen wir regelmäßig in diversen Bäckereien oder Toiletten auf… Die Laune ist nach wie vor super, das Wetter perfekt und der See flankiert und zur Rechten. So macht das richtig Laune. Wir witzeln das erste Mal drüber, dass wir mit dem Schnitt ja vielleicht sogar an der 600km Marke kratzen könnten…was uns hier, nach knapp 6 Stunden im Sattel noch realistisch erscheint wird sich noch ändern…
15:18
Wir sind wieder in Deutschland und gönnen uns in Gaienhofen ein wohlverdientes Eis, 3 Kugeln für jeden, ist ja selbstverständlich, schließlich müssen wir uns die Kalorien wieder draufschaffen die wir den Tag über verbrennen. In der Schweiz haben wir noch eine Gruppe Radfahrer aufgegabelt, bei welcher wir uns für eine knappe halbe Stunde mit in den Windschatten hängen durften. Mit einem Schnitt von guten 40km/h sind wir dort quasi durch die Schweiz geflogen, doch hier war ich der begrenzende Faktor, da sich dann doch das wenige Training, was ich dieses Jahr hatte, bemerkbar gemacht hat.
17:45
Wir sind wieder daheim. Die erste Runde ist geschafft, jetzt heißt es kurz Füße hoch, essen und trinken auffüllen und bei einem herrlichen Kaffee genießen, das Runde 1 schon in den Beinen ist.
Dann heißt es packen. Alles was wir für die Nacht brauchen und was wir am Körper tragen können. Lange Klamotten an, Jacke drüber. Licht ans Rad, Notlicht auch und die Taschen voll mit Gels geht es in die nächste Runde.
Wir sind perfekt in der Zeit, die 500km scheinen wirklich machbar, die 600km über die wir mittags noch gewitzelt haben scheinen zwar möglich aber ehrlicherweise unrealistisch. Also geht es auf in den Abend auf Runde 2. Nochmal die gleiche Strecke, nochmal die gleichen Kurven, Abfahrten, Anstiege und Städtchen…
20:00
Unteruhldingen, da waren wir doch schonmal. Allerdings hatte sich das heute Morgen noch ein bisschen frischer angefühlt. Die Sonne ist vor einer halben Stunde untergegangen und das Restlicht des Tages ist auch fast schon weg. Jetzt geht es in die Nacht, den Teil den ich wirklich gerne fahre. Mir gefällt die Ruhe daran und der Fokus auf den Lichtkegel der Lampe. Das hat irgendwie etwas Meditatives auch wenn ich mich manchmal frage ob das eher ein Zustand der Erschöpfung ist der alles um einen herum ein wenig dumpfer und weniger relevant erscheinen lässt.
Nach wie vor machen wir nach jeder gefahrenen Zeitstunde eine Pause. Mussten wir uns morgens noch zwingen überhaupt Pausen zu machen, ist jetzt eher der Kampf nicht viel mehr als 10 Minuten stehen zu bleiben, damit die Muskulatur nicht zu stark auskühlt und die Parkbank dann nicht doch plötzlich zu bequem wird… 😉
00:00
Wir sind irgendwo in der Schweiz, wir werden langsamer… das war abzusehen und ist natürlich auch einkalkuliert gewesen.. was wir nicht einkalkulieren konnten ist, dass das Knie von Chris mehr und mehr Probleme macht. Es beginnt ein Kampf gegen die Zeit, gegen die schwindenden Kraftreserven und gegen den Schmerz der irgendwann allgegenwärtig ist. Die Frage ist nur, wieviel davon kann man aushalten und wann gefährden wir unsere Gesundheit…
2:00
Kreuzlingen ist erreicht, wir machen eine Pause in einem Bushäuschen und beraten uns. Noch sind wir gut in der Zeit und können die 500km schaffen. Selbst wenn wir deutlich langsamer radeln als bisher. Aber das Knie von Chris macht uns Sorgen… Das irgendwann die Knochen und Muskeln schmerzen ist uns klar, aber das hier ist ein anderes Level. Also was tun, abbrechen und ich fahre alleine weiter? Irgendwie durchziehen und vielleicht bleibende Schäden erzeugen? Die Pause ausdehnen und später weiterfahren?
Keine Entscheidung die für uns einfach war. Was allerdings sofort klar war ist, wir werden nicht die Gesundheit von Chris riskieren nur um ein Ziel zu erreichen was wir uns selbst gesetzt haben. Bei einem Event das uns Spaß machen und in guter Erinnerung bleiben soll…
Wenn wir jetzt weiterfahren und den Untersee in Angriff nehmen würden, hätten wir keine Möglichkeit mehr abzubrechen, da wir uns immer weiter von Konstanz entfernen. Kein sehr verlockender Gedanke und auch ein deutlich zu hohes Risiko sollte sich die Situation weiter verschlechtern.
Also Abbruch, wir radeln über die Grenze zurück nach Konstanz und sind schon eine knappe halbe Stunde wieder daheim.
Wir sind platt und saumäßig stolz auf das was wir geleistet haben.
412,42km – bei denen wir miteinander ein Erlebnis teilen durften was uns in Erinnerung bleibt.
Der Tag danach
Ich wache morgens auf und frage mich kurz, ob das alles wirklich passiert ist. Ich habe es wieder getan. Bin wieder auf dem Sattel gesessen, an meine Grenzen gegangen und mir geht es wirklich gut. Auch das Knie von Chris hat sich zum Glück erholt und ist schon nach wenigen Tagen wieder voll einsatzbereit.
Was wir daraus mitnehmen? Sich ein großes Ziel vorzunehmen ist mutig und spannend – aber noch mutiger ist sich selbst einzugestehen, wann es Zeit ist aufzuhören und dankbar für das zu sein was man erreicht hat.
Ich danke dir lieber Cousin, dass du mich begleitet hast und dieses Event zur Teamedition gemacht hast. Es war mir ein Fest dieses Erlebnis mit dir zu teilen und ich bin mir sicher, es wird nicht das Letzte sein.
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